
Ein offensichtlicher Wegfall des auf den Beitritt der damals neuen Länder zurückzuführenden Mehrbedarfs des Bundes könne auch heute (noch) nicht festgestellt werden. Eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Aufhebung des Solidaritätszuschlags ab dem Veranlagungszeitraum 2020 bestand und besteht folglich nicht (BVerfG, Urteil vom 26.3.2025, 2 BvR 1505/20).
- Der zum 1. Januar 1995 eingeführte Solidaritätszuschlag stellt eine Ergänzungsabgabe im Sinne des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG dar. Eine solche Ergänzungsabgabe setzt einen aufgabenbezogenen finanziellen Mehrbedarf des Bundes voraus, der durch den Gesetzgeber allerdings nur in seinen Grundzügen zu umreißen ist. Im Fall des Solidaritätszuschlags ist dies der wiedervereinigungsbedingte finanzielle Mehrbedarf des Bundes. Ein evidenter Wegfall des Mehrbedarfs begründet eine Verpflichtung des Gesetzgebers, die Abgabe aufzuheben oder ihre Voraussetzungen anzupassen. Insoweit trifft den Bundesgesetzgeber - bei einer länger andauernden Erhebung einer Ergänzungsabgabe - eine Beobachtungsobliegenheit. Ein offensichtlicher Wegfall des auf den Beitritt der damals neuen Länder zurückzuführenden Mehrbedarfs des Bundes kann allerdings auch heute (noch) nicht festgestellt werden. Eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Aufhebung des Solidaritätszuschlags ab dem Veranlagungszeitraum 2020 bestand und besteht folglich nicht.
- Der Bundesgesetzgeber ist aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht gezwungen, von der Erhebung einer Ergänzungsabgabe abzusehen, wenn auch eine Erhöhung der Einkommen- oder Körperschaftsteuer bzw. eine Anhebung der dem Bund zustehenden Verbrauchsteuern in Betracht käme, dies aber aus politischen Gründen nicht opportun oder durchsetzbar erscheint.
- Eine Ergänzungsabgabe im Sinne des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG ist von Verfassungs wegen nicht von vornherein zu befristen. Gegen eine Befristung spricht insbesondere die Funktion, die die Ergänzungsabgabe als flexible Alternative zur Anpassung der Einkommen- oder Körperschaftsteuer als gemeinschaftliche Steuern oder zur Erhöhung der allein dem Bund zufließenden Verbrauchsteuern erfüllen soll.
- Schließlich beschränkt Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG den Bundesgesetzgeber auch nicht darauf, eine Ergänzungsabgabe nur während einer "Notlage“ oder "Ausnahmelage“, nicht aber auch in einer "finanzverfassungsrechtlichen Normallage“ zu erheben.
- Wie erwähnt ist der Bundesgesetzgeber gehalten, seine ursprüngliche Entscheidung zur Einführung einer Ergänzungsabgabe in gewissen Abständen daraufhin zu überprüfen, ob die seinerzeit angenommene Entwicklung des finanziellen Bedarfs noch der Realität entspricht. Der wiedervereinigungsbedingte finanzielle Mehrbedarf des Bundes war bei Erlass des Gesetzes zur Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995 mit Wirkung zum 1. Januar 2020 aber noch nicht in evidenter Weise entfallen. Auch heute kann ein offensichtlicher Wegfall des auf den Beitritt der damals neuen Länder zum Bundesgebiet zurückzuführenden - wenn auch verringerten - Mehrbedarfs des Bundes (noch) nicht festgestellt werden. Der Bund verzeichnet weiterhin einen wiedervereinigungsbedingten zusätzlichen Finanzierungsbedarf. Diese Einschätzung hält sich im Rahmen des dem Bundesgesetzgeber bei der Bestimmung einer Aufgabe und des durch sie bedingten finanziellen Mehrbedarfs zukommenden Spielraums. Dieser besteht zwar angesichts der langen Erhebungszeit des Solidaritätszuschlags 1995 nicht mehr in dem ursprünglichen Umfang. Er bleibt dem Gesetzgeber aber insoweit erhalten, als das Bundesverfassungsgericht lediglich nachprüfen kann, ob die Aufgabe, auf die die Einführung des Solidaritätszuschlags 1995 gestützt worden war, im Jahr 2020 oder danach offensichtlich in keiner Weise mehr einen finanziellen Mehrbedarf des Bundes begründet. Dies ist jedenfalls derzeit noch nicht der Fall.
- Ein im Verfahren vorgelegtes Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass selbst 30 Jahre nach der Wiedervereinigung trotz positiver Entwicklungen noch strukturelle Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland verbleiben und es auch noch bis 2030 in bestimmten Bereichen wiedervereinigungsbedingte Belastungen des Bundeshaushalts gibt. Die erhobenen, in dem Gutachten ausgewerteten Daten und die daraus von den beteiligten sachkundigen Dritten gezogenen Schlussfolgerungen zeigen, dass von einem evidenten Entfallen des wiedervereinigungsbedingten Mehrbedarfs des Bundes noch nicht ausgegangen werden kann. Auch der Umstand, dass unter den in der mündlichen Verhandlung angehörten Ökonomen gerade keine einheitliche Bewertung zu erzielen war, verdeutlicht die fehlende Evidenz eines Wegfalls des wiedervereinigungsbedingten Mehrbedarfs. Die Frage, ob Ausgaben des Bundes jedenfalls auch auf ein bestimmtes Ereignis (hier: Wiedervereinigung) (mit) zurückgeführt werden können oder möglicherweise vollständig durch andere Einflussfaktoren bestimmt sind, kann je nach ökonomischer Grundannahme unterschiedlich beantwortet werden. Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, eine Auswahl zwischen diesen Annahmen zu treffen, solange die Annahme, auf die sich der Gesetzgeber gestützt hat, nicht evident neben der Sache liegt.
- Zwar mag der Gesetzgeber bei einer Ergänzungsabgabe wie dem Solidaritätszuschlag nicht zu einer sozialen Abstufung verpflichtet sein; dies ändert aber nichts daran, dass er in Anbetracht des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG) und der unterschiedlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Einkommensteuerpflichtigen zu einer solchen Abstufung berechtigt ist. Das gilt auch dann, wenn die sozialen Erwägungen - wie beim Solidaritätszuschlag 1995 - nicht bereits bei dessen Einführung, sondern erst bei dessen teilweiser Rückführung berücksichtigt werden.
- Das SolZG 1995 in der hier maßgeblichen Fassung genügt auch den materiellen Anforderungen an eine Inhalts- und Schrankenbestimmung. Es ist weder vorgetragen noch erkennbar, dass vorliegend mit dem Ansatz des Solidaritätszuschlags in Höhe von 5,5 % der Einkommen- beziehungsweise Körperschaftsteuer eine übermäßige, mit einer verfassungsrechtlichen Obergrenze zumutbarer Besteuerung nicht mehr vereinbare Steuerbelastung verbunden wäre und damit ein Verstoß gegen den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorläge. Dies gilt sowohl für das Jahr 2020, in dem - mit wenigen Ausnahmen - grundsätzlich von allen Einkommen- beziehungsweise Körperschaftsteuerpflichtigen die Abgabe erhoben wurde, als auch für die Jahre ab 2021, in denen in Bezug auf die Einkommensteuerpflichtigen grundsätzlich nur noch höhere Einkommensgruppen der Ergänzungsabgabe unterworfen sind.
- Auch steht der Zuschlagsatz in Höhe von 5,5 % derzeit noch nicht evident außer Verhältnis zu der Höhe des aufgabenbezogenen Mehrbedarfs, der mit dem Solidaritätszuschlag gedeckt werden soll. Zwar betrug das Aufkommen aus dem Solidaritätszuschlag im Jahr 2020 18,7 Milliarden Euro, wohingegen die Summe der zumindest auch vereinigungsbedingten überproportionalen Belastungen des Bundeshaushalts in den Jahren ab 2020 lediglich rund 13 Milliarden Euro beträgt. Der Bundesgesetzgeber reagierte jedoch hierauf entsprechend seiner verfassungsrechtlichen Beobachtungsobliegenheit mit dem Gesetz zur Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995, indem er den Solidaritätszuschlag nicht mehr von allen einkommensteuerpflichtigen Personen erhob und damit das Aufkommen für die Jahre ab 2021 deutlich verringerte. Im Jahr 2021 betrug das Aufkommen aus dem Solidaritätszuschlag nur noch 11 Milliarden Euro.
- Im Hinblick auf die soziale Staffelung der Ergänzungsabgabe kann offenbleiben, ob eine grundrechtsrelevante Ungleichbehandlung darin liegen könnte, dass sich der Gesetzgeber (durch eine Gleitzone abgemilderter) Freigrenzen und keiner alle Steuerpflichtigen entlastender Freibeträge bedient beziehungsweise sich nicht dafür entschieden hat, alle Steuerpflichtigen gleichmäßig zu belasten. Eine solche wäre jedenfalls gerechtfertigt.
- Soweit die Freigrenzen nach § 3 Abs. 3 Satz 1 SolZG 1995 grundsätzlich nicht auf die im Wege des Kapitalertragsteuerabzugs erhobene, sondern nur auf die veranlagte Einkommensteuer und Lohnsteuer Anwendung finden, handelt es sich nicht um im Wesentlichen vergleichbare Sachverhalte. Dies gilt ebenso, soweit die ab dem Jahr 2021 geltenden Freigrenzen nur auf Einkommensteuer- und nicht auch auf Körperschaftsteuersubjekte Anwendung finden. Insoweit liegen ebenfalls keine im Wesentlichen vergleichbare Sachverhalte vor (Quelle: BVerfG, Pressemitteilung vom 26.3.2025).
Weitere Informationen: Der Solidaritätszuschlag: Wie hoch ist die Zusatzabgabe?