
Zunächst zum Hintergrund: Ein behindertes Kind ist außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn seine Einkünfte, Bezüge und sonstigen Einnahmen nicht ausreichen, um seinen Grundbedarf und gegebenenfalls einen behinderungsbedingten Mehrbedarf zu decken. Zur Bemessung des Grundbedarfs ist an den steuerlichen Grundfreibetrag anzuknüpfen. Wie erwähnt hat der Bundesfinanzhof im Jahre 2021 dargelegt, wie die Fähigkeit zum Selbstunterhalt rechnerisch zu ermitteln ist, also welche Einnahmen dem Kind als eigene Mittel für seinen Unterhalt zuzurechnen sind und welche Beträge abgezogen werden dürfen (BFH-Urteil vom 27.10.2021, III R 19/19; vgl. SteuerSparbrief April 2022). Danach gilt unter anderem:
- Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich seiner finanziellen Mittel einerseits und des gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes andererseits. Ergibt sich daraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerliche Leistungsfähigkeit mindert, und es ist gerechtfertigt, für behinderte Kinder kein Kindergeld und keinen Kinderfreibetrag zu gewähren. Der gesamte Lebensbedarf eines behinderten Kindes setzt sich aus dem betragsmäßigen Grundbedarf, der an den steuerlichen Grundfreibetrag anknüpft, und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen.
- Zu den finanziellen Mitteln des behinderten volljährigen Kindes gehören seine Einkünfte und Bezüge. Als Einnahmen sind zudem laufende oder einmalige Geldzuwendungen von dritter Seite anzusehen, soweit sie nicht der Kapitalanlage dienen, sondern den Unterhaltsbedarf des Kindes decken und damit die Eltern bei ihren Unterhaltsleistungen entlasten sollen. Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten an das Kind selbst sind nicht als Einnahmen zu berücksichtigen. Sozialleistungen, mit deren Hilfe das Kind seinen existenziellen Grundbedarf oder behinderungsbedingten Mehrbedarf decken kann, sind dagegen zu berücksichtigen, soweit das Kind nicht vom Sozialleistungsträger zu einem Kostenbeitrag herangezogen wird. Auch die Eingliederungshilfe ist als Einnahme zu erfassen, wobei diese auch beim behinderungsbedingten Mehraufwand anzusetzen ist.
- Der behinderungsbedingte Mehrbedarf umfasst Aufwendungen, die gesunde Kinder nicht haben. Diese können einzeln nachgewiesen werden. Erbringt der Steuerpflichtige keinen Einzelnachweis, kann der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag als Anhalt für den Mehrbedarf dienen. Bei der Ermittlung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs, der bei einer teilstationären Unterbringung während der Zeit der häuslichen Pflege anfällt, ist von einer tatsächlichen Vermutung des Inhalts auszugehen, dass für die häusliche Pflege mindestens ein Mehrbedarf in Höhe des gezahlten Pflegegeldes entsteht. Ein behinderungsbedingter Betreuungsbedarf kann aber zum Beispiel auch dadurch nachgewiesen werden, dass das Kind Eingliederungshilfe erhält, welche gegebenenfalls um einen Verpflegungsanteil zu kürzen ist.
AKTUELL hat der BFH erneut zum dem Thema geurteilt. Dieses Mal ging es um die Frage, wie behinderungsbedingte Fahrtkosten zu berücksichtigen sind, inwieweit sie also zum behinderungsbedingten Mehrbedarf gehören. Danach gilt: Unter bestimmten Voraussetzungen können behinderungsbedingte Fahrtaufwendungen neben dem Behinderten-Pauschbetrag geltend gemacht werden. Sie müssen aber - zumindest für die Jahre bis einschließlich 2020 - im Einzelnen nachgewiesen oder glaubhaft gemacht werden. Zudem müssen sie angemessen sein (BFH-Urteil vom 10.7.2024, III R 2/23).
- Der Fall: Die Klägerin bezog für ihre behinderte Tochter Kindergeld. Für sie war ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 festgestellt worden. Seitdem die Tochter eine geringe Erwerbsminderungsrente bezieht, wollte die Familienkasse kein Kindergeld mehr zahlen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Tochter nun in der Lage sei, sich selbst zu unterhalten. Hiergegen wandte sich die Mutter und erklärte, dass der Tochter hohe Fahrtkosten entstanden seien, die bei der Prüfung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs zu berücksichtigen seien. Einen pauschalen Ansatz von Fahrtkosten lehnte die Familienkasse jedoch ab und verlangte einen Nachweis oder eine Glaubhaftmachung der Durchführung der Fahrten. Die Mutter machte hingegen geltend, dass anstelle der tatsächlich glaubhaft gemachten Fahrtkosten ein Pauschbetrag in Höhe von 75 EUR pro Monat (entspricht 3.000 km pro Jahr zu je 0,30 EUR) zu berücksichtigen sei. Doch letztlich erkannte auch der BFH, dass Fahrtkosten nicht pauschal, sondern nur per Nachweis bzw. Einzelaufstellung zu berücksichtigen seien. Die Sache wurde an die Vorinstanz zurückverwiesen. Diese muss nun feststellen, ob und in welchem Umfang im Streitzeitraum Aufwendungen für durch die Behinderung veranlasste unvermeidbare Fahrten (zum Beispiel mit dem Kraftfahrzeug der Klägerin, mit dem öffentlichen Personennahverkehr oder mit einem Taxi) vorlagen. Streitjahr war das Jahr 2018.
- Begründung: Werden die behinderungsbedingten Mehraufwendungen nicht im Einzelnen nachgewiesen, sondern der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag angesetzt, können daneben nicht zusätzlich Aufwendungen angesetzt werden, die entweder bereits durch den Pauschbetrag für den Grundbedarf oder den Behinderten-Pauschbetrag abgegolten werden. Zusätzlich angesetzt werden kann allerdings ein behinderungsbedingter Sonderbedarf. Dazu müssen die Aufwendungen jedoch dem Grunde und der Höhe nach substantiiert dargelegt und glaubhaft gemacht werden und angemessen sein. Eine reine Fahrtkostenpauschale - hier in Höhe von 75 EUR pro Monat - kann nicht angesetzt werden.
STEUERRAT: Es ging um das Streitjahr 2018. Damals wurden behinderungsbedingte Fahrtkosten zwar im Rahmen einer Billigkeitsregelung der Finanzverwaltung berücksichtigt, es gab aber keine gesetzliche Pauschale. Diese ist erst im Jahr 2021 eingeführt worden (§ 33 Abs. 2a EStG). Menschen mit einem Grad der Behinderung ab 80 oder mit einem GdB ab 70 und dem Merkzeichen "G" erhalten danach einen Pauschbetrag von 900 EUR. Menschen mit dem Merkzeichen "aG“, mit dem Merkzeichen "Bl“, mit dem Merkzeichen "TBl“ oder mit dem Merkzeichen "H“ erhalten einen Pauschbetrag von 4.500 EUR. Das aktuelle BFH-Urteil kann wohl so interpretiert werden, dass der jeweilige Pauschbetrag seit 2021 auch bei der Prüfung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs zu berücksichtigen ist, für davor liegende Zeiträume aber eine Einzelaufstellung der Aufwendungen vorzulegen ist.
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