AKTUELL hat der Bundesfinanzhof entschieden, dass an den Nachweis einer kürzeren Nutzungsdauer keine überbordenden Anforderungen zu stellen sind. Der Steuerpflichtige kann sich zur Darlegung der verkürzten tatsächlichen Nutzungsdauer jeder Darlegungsmethode bedienen, die im Einzelfall zur Führung des erforderlichen Nachweises geeignet erscheint. Die Vorlage eines Bausubstanzgutachtens ist jedenfalls nicht Voraussetzung für die Anerkennung einer verkürzten tatsächlichen Nutzungsdauer (BFH-Urteil vom 28.7.2021, IX R 25/19).
- Der Fall: Die Klägerin erwarb im Jahr 2002 ein Wohn- und Geschäftshaus. Beim Finanzamt beantragte sie eine höhere AfA als gesetzlich pauschal vorgesehen, da das Gebäude - entsprechend eines vorgelegten Gutachtens - eine verkürzte Nutzungsdauer habe. Das Finanzamt lehnte dies ab. Zwar komme eine kürzere Nutzungsdauer bei entsprechendem Nachweis grundsätzlich in Betracht. Dazu bedürfe es aber eines besonderen Gutachtens, und zwar eines so genannten Bausubstanzgutachtens. Finanzgericht und BFH sehen das aber anders.
- Die Darlegungen des Steuerbürgers müssen Aufschluss über die maßgeblichen Determinanten - zum Beispiel technischer Verschleiß, wirtschaftliche Entwertung, rechtliche Nutzungsbeschränkungen - geben, welche die Nutzungsdauer im Einzelfall beeinflussen, und auf deren Grundlage der Zeitraum, in dem das maßgebliche Gebäude voraussichtlich seiner Zweckbestimmung entsprechend genutzt werden kann, im Wege der Schätzung mit hinreichender Bestimmtheit zu ermitteln ist. Vor diesem Hintergrund ist die Vorlage eines Bausubstanzgutachtens, insbesondere die Zustandsermittlung von Immobilien mit Hilfe des sog. ERAB-Verfahrens (Verfahren zur Ermittlung des Abnutzungsvorrats von Baustoffen), nicht Voraussetzung für die Anerkennung einer verkürzten tatsächlichen Nutzungsdauer, selbst wenn ein solches Gutachten möglicherweise den technischen Verschleiß eines Gebäudes im Einzelfall nachvollziehen könnte. Denn das erst vor einigen Jahren entwickelte ERAB-Verfahren, mit dem der Zustand eines jeden relevanten Bauelements von Gebäuden erfasst und durch eine quantitative Größe dargestellt wird, definiert mit Hilfe qualitäts- und schadensbezogener Merkmale sowie zugehöriger Merkmalsausprägungen lediglich einen baustoffspezifischen Wert.
- Wählt der Steuerpflichtige daher aus nachvollziehbaren Gründen eine andere Nachweismethode, kann dies - gegebenenfalls unter Berücksichtigung entsprechender Anpassungen - Grundlage für die im Einzelfall erforderliche Schätzung einer verkürzten tatsächlichen Nutzungsdauer sein, soweit aus der gewählten Methode Rückschlüsse auf die zu ermittelnden Determinanten möglich sind. Da im Rahmen der Schätzung nur die größtmögliche Wahrscheinlichkeit über eine kürzere tatsächliche Nutzungsdauer verlangt werden kann, würde eine Verengung der Gutachtenmethodik oder eine Festlegung auf ein bestimmtes Ermittlungsverfahren die Anforderungen an die Feststellungslast überspannen.
STEUERRAT: Das Urteil ist höchst erfreulich und wird nun in vielen Fällen höhere AfA-Sätze ermöglichen. Allerdings muss das Gutachten natürlich eine bestimmte methodische Qualität aufweisen.
AKTUELL hat das Finanzgericht Münster die Sichtweise des BFH wie folgt mit Leben gefüllt: Wird im Rahmen eines Wertgutachtens die Restnutzungsdauer eines Gebäudes nach der Wertermittlungsverordnung bestimmt, kann diese der Berechnung des AfA-Satzes zugrunde gelegt werden (Urteil vom 27.1.2022, 1 K 1741/18 E, rechtskräftig).
- Der Fall: Der Kläger erwarb im Jahr 2011 im Rahmen eines Zwangsversteigerungsverfahrens ein Mietshaus, das im Jahr 1955 errichtet wurde. Das Amtsgericht hatte im Zwangsversteigerungsverfahren ein Sachverständigengutachten zur Ermittlung des Grundstückswerts auf den Stichtag 17.5.2010 in Auftrag gegeben. Der öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige machte in seinem Gutachten u.a. Angaben zum Modernisierungsstand und zu erforderlichen Instandsetzungsarbeiten und kam danach zu einem fiktiven Baujahr von 1960 und zu einer Restnutzungsdauer des Gebäudes von 30 Jahren. Dem Gutachten legte er die Regelungen der zum Stichtag gültigen Wertermittlungsverordnung (WertV) zugrunde. Der Kläger machte in seinen Einkommensteuererklärungen eine jährliche AfA des Gebäudes von 3,33 Prozent als Werbungskosten aus Vermietung und Verpachtung geltend. Das Finanzamt berücksichtigte demgegenüber lediglich einen AfA-Satz von 2 Prozent aufgrund einer gesetzlich unterstellten Nutzungsdauer von 50 Jahren. Das FG Münster hat der Klage in Bezug auf den AfA-Satz stattgegeben.
- Bei einer tatsächlich kürzeren Nutzungsdauer des Gebäudes als 50 Jahre könne von einem höheren AfA-Satz als 2 Prozent ausgegangen werden. Nach der BFH-Rechtsprechung könne sich der Steuerpflichtige jeder Darlegungsmethode bedienen, die im Einzelfall zur Führung des erforderlichen Nachweises geeignet erscheine. Hierfür sei kein Bausubstanzgutachten erforderlich. Der Sachverständige habe aufgrund sachlicher Kriterien eine von der gesetzlichen Typisierung abweichende geringere Restnutzungsdauer von 30 Jahren ermittelt. Er habe fundierte Ausführungen zu den erforderlichen Instandsetzungsarbeiten und zum Zustand des Gebäudes gemacht. Die modellhafte Ermittlung der Restnutzungsdauer von 30 Jahren anhand der WertV sei für das Gericht nachvollziehbar und liege jedenfalls nicht (erheblich) außerhalb des zulässigen Schätzungsrahmens.
STEUERRAT: Im aktuellen Streitfall hat der Kläger ein Wertgutachten eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen vorgelegt.
Der Finanzverwaltung behagt diese Rechtsprechung überhaupt nicht und so sollte der Gesetzgeber veranlasst werden, § 7 Abs. 4 Satz 2 EStG ersatzlos zu streichen, das heißt, dass immer nur die typisierenden Nutzungsdauern hätten angesetzt werden dürfen. Doch eine geplante Gesetzesänderung wurde zurückgezogen.
Aber gibt sich die Finanzverwaltung nun geschlagen? Keinesfalls! In einem aktuellen Schreiben stellt das Bundesfinanzministerium dar, welche Anforderung an ein Gutachten zur Verkürzung des AfA-Zeitraums zu stellen sind. Und wie zu erwarten war, legt das BMF die Messlatte hoch (BMF-Schreiben vom 22.2.2023, IV C 3 - S 2196/22/10006: 005):
- Der Nachweis einer kürzeren tatsächlichen Nutzungsdauer ist durch Vorlage eines Gutachtens eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen für die Bewertung von bebauten und unbebauten Grundstücken oder von Personen, die von einer nach DIN EN ISO/IEC 17024 akkreditierten Stelle als Sachverständige oder Gutachter für die Wertermittlung von Grundstücken nach entsprechender Norm zertifiziert worden sind, zu erbringen.
- Im Rahmen des Nachweises ist der Zustand des Gebäudes in seinen die Nutzungsdauer bestimmenden Elementen (Tragstruktur des Bauwerks) darzustellen und begründet darzulegen, weshalb am Ende der geltend gemachten (kürzeren) Nutzungsdauer voraussichtlich keine wirtschaftlich sinnvolle (anderweitige) Nachfolgenutzung mehr möglich ist und kein Restwert mehr vorhanden ist. Ein Bausubstanzgutachten ist nicht zwingend erforderlich, kann aber hilfreiche Anhaltspunkte zur Beurteilung des Einzelfalls enthalten.
- Die bloße Übernahme einer Restnutzungsdauer aus einem Verkehrswertgutachten ist nicht als Nachweis einer kürzeren tatsächlichen Nutzungsdauer geeignet. Die Restnutzungsdauer und die Gesamtnutzungsdauer nach der Immobilienwertverordnung (ImmoWertV) entsprechen nicht der tatsächlichen Gesamt- bzw. Restnutzungsdauer eines einzelnen Gebäudes, sondern sind Modellansätze, die nur im Gesamtkontext einer Verkehrswertermittlung zu sachgerechten Ergebnissen führen. Eine isolierte Verwendung der Modelle bzw. Modellansätze der ImmoWertV bzw. der Anlagen zur ImmoWertV für Zwecke des Nachweises einer kürzeren tatsächlichen Nutzungsdauer im Sinne des § 7 Abs. 4 Satz 2 EStG ist nicht sachgerecht.
STEUERRAT: Im Wesentlichen sind es drei Faktoren, die für eine kürzere Nutzungsdauer eines Gebäudes sprechen: der technische Verschleiß, die wirtschaftliche Entwertung sowie rechtliche Gegebenheiten, welche die Nutzungsdauer begrenzen können. Heutzutage wird wohl auch eine mangelnde Energieeffizienz - ohne Möglichkeit der Sanierung - für eine wirtschaftliche Entwertung sprechen, zumal entsprechende Gebäude bald kaum noch vermietbar sein werden. Die Absicht, ein zunächst noch genutztes Gebäude abzubrechen oder zu veräußern, rechtfertigt es übrigens nicht, eine kürzere Nutzungsdauer des Gebäudes zugrunde zu legen. Eine Verkürzung der Nutzungsdauer kann erst angenommen werden, wenn die Vorbereitungen zum Gebäudeabbruch soweit gediehen sind, dass die weitere Nutzung in der bisherigen oder einer anderen Weise so gut wie ausgeschlossen ist.
STEUERRAT: Ob der Steuervorteil die Kosten eines Gutachtens, die sich oft zwischen 3.000 und 5.000 EUR bewegen, überwiegt, muss jeder für sich entscheiden, denn selbst im Erfolgsfalle bleiben die Steuerzahler grundsätzlich auf diesen Kosten sitzen. Allenfalls in einem finanzgerichtlichen Verfahren können dem Finanzamt die Kosten aufgebürdet werden - und auch das nur ausnahmsweise (vgl. dazu FG Hamburg, Beschluss vom 24.6.2017, 3 KO 56/17, EFG 2017 S. 1620 Nr. 19).
STEUERRAT: Für bestimmte betrieblich genutzte Gebäude (z.B. Hallen in Leichtbauweise oder bei Ställen und Schuppen) kann sich jeweils in Abhängigkeit von der Bauart, der Bauweise und der Nutzung bereits aus den amtlichen AfA-Tabellen eine kürzere Nutzungsdauer ergeben. Berufen sich die Steuerpflichtigen auf die in den AfA-Tabellen enthaltenen Richtwerte, sind diese anzusetzen.
Weitere Informationen:
Beachten Sie auch unsere weiteren Steuertipps in der Rubrik